Ökonomin Monika Bütler im Interview: «Das BVG wurde in viel zu enge Schuhe gesteckt»

29. Oktober 2025 | Kommentar(e) |

Martin Kamber

Monika Bütler gehört zu den profiliertesten Stimmen im Land, wenn es um Sozialversicherungen und insbesondere unser System der Altersvorsorge geht. Am HZ Focus Day, unterstützt von der Groupe Mutuel, wusste die Honorarprofessorin der Universität St. Gallen das Publikum mit erfrischend servierten Fakten zu fesseln. Sie liess keinen Zweifel daran, dass es Anpassungen bei der zweiten Säule braucht.

Sie war schon immer eine neugierige Frau, und diese Neugier hat sie sich bewahrt. An ein Studium der Mathematik und der Physik schloss Monika Bütler ein weiteres in Volkswirtschaftslehre an. «Ich wollte immer verstehen, wie die Welt funktioniert, physikalisch, aber auch gesellschaftlich, und dazu einen Beitrag leisten», sagt die Hauptrednerin des 3. HZ Focus, der Ende August im Kunsthaus Zürich stattfand. Sie ergänzt: «Ich finde es immer noch wichtig, dass Probleme von unterschiedlichen Seiten beleuchtet werden. Und dass wir anerkennen, dass es oft keine einfachen Antworten gibt.»

Frau Bütler, was fasziniert Sie an der Auseinandersetzung mit dem Thema Altersvorsorge?

Mich fasziniert, dass die Altersvorsorge sehr lange Zeitperioden umfasst und es bei vielen Entscheidungen interessante Abwägungen zu machen gilt. Aus der Perspektive der Individuen ist dies ein Abwägen zwischen Konsum heute und Konsum morgen, also Sparen. Dabei spielen sowohl rationale wie auch weniger rationale Aspekte mit. Auf der politischen Ebene ist es die Abwägung zwischen Umverteilung und Effizienz, die ich spannend finde.

Zur Person

Monika Bütler studierte Mathematik und Physik in Bern und Zürich. Auf erste berufliche Erfahrungen in der angewandten Forschung und in der Privatindustrie folgte ein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, wo sie 1997 doktorierte. Von 1997 bis 2001 arbeitete sie als Assistenzprofessorin an der Universität Tilburg, Niederlande, und von 2001 bis 2004 als ordentliche Professorin an der Universität Lausanne, ehe sie 2004 als ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik an die Universität St. Gallen zurückkehrte. Sie war Mitgründerin und Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW). Seit 2021 ist Monika Bütler selbstständig tätig.

Die Schweizer Altersvorsorge galt lange als vorbildlich. Laut Global Pension Index von Mercer belegt sie heute im internationalen Vergleich nur noch Rang 12. Was ist passiert?

Erstens haben viele Länder aufgeholt, und das ist erfreulich. Andererseits hat die Schweiz es versäumt, das System an die neuen demographischen Realitäten anzupassen und so das Vertrauen in der Bevölkerung verspielt. Dieser Vertrauensverlust macht mir fast noch mehr Sorgen als die ausbleibenden Reformen. Die Pensionskassen haben nämlich einen guten Job gemacht, als es darum ging, die starren und teils marktfremden Regulationen wie den Umwandlungssatz abzufedern. Der Preis dafür sind komplizierte Schattenrechnungen und Ungleichbehandlungen von Versicherten, die das Vertrauen der Versicherten unterminieren und Reformen noch schwieriger machen.

Es gibt wenig Vertrauen in der Bevölkerung, aber auch wenig Wissen, Stichwort «Financial Literacy». Welche Wissenslücken müssen aus Ihrer Sicht vor allem geschlossen werden?

Die Wissenslücken sind leider vielfältig. Es geht nicht nur um das Finanzwissen, sondern auch um einfache wirtschaftliche Zusammenhänge. Was mir aber in der letzten Zeit auch in der Politik besonders aufgefallen ist: Es fehlt die Bereitschaft, Zielkonflikte zu diskutieren. Jede Massnahme, jede Entscheidung hat Kosten und Nutzen.

«Der Vertrauensverlust in der Bevölkerung macht mir fast noch mehr Sorgen als die ausbleibenden Reformen.»

Welche Ziele sollte die berufliche Vorsorge angesichts der neuen Realitäten in der Arbeitswelt und der Alterung der Bevölkerung prioritär angehen?

Eigentlich sind die heutigen Ziele – vor allem die Sicherung des Lebensstandards nach der Pensionierung, für die Hinterbliebenen und bei Invalidität – immer noch richtig, da für die Grundsicherung die AHV zuständig ist. Was ich ändern oder ergänzen würde: Erstens, dass auch selbständige Tätigkeiten im gleichen Rahmen versichert werden können. Zweitens, dass die Kontinuität der Vorsorge auch bei Auszeiten gesichert ist. Und drittens, dass es einen Vorsorgeausgleich zwischen Eltern gibt, und zwar unabhängig davon, ob diese verheiratet sind oder nicht.

Auf ein verändertes Selbstverständnis der Frauen haben Sie am HZ Focus Day speziell hingewiesen. Welchen Handlungsbedarf leiten Sie davon fürs BVG ab?

Das Interessante ist, dass der Gender Gap in den Renten erst seit wenigen Jahren diskutiert wird, obwohl er schon immer da war und sich über die Zeit eher verkleinert hat. Das berechtigte Anliegen, diese Unterschiede abzumildern, hat seinen Ursprung im Erstarken der Frauenbewegung.

Den Gender Gap gibt es überall dort, wo der Arbeitslohn die Hauptdeterminante der späteren Rente ist. In Deutschland zum Beispiel auch in der ersten Säule. In der schweizerischen AHV gibt es keinen Gender Gap, erstens weil es einen Ausgleich zwischen Ehepaaren gibt, zweitens weil es Betreuungsgutschriften gibt, und drittens, weil die AHV nur sehr schwach vom Lohn abhängt. Der Ausgleich zwischen den Eltern – ob verheiratet oder unverheiratet – wäre ein guter Ansatz, die Unterschiede deutlich zu verringern auch in der zweiten Säule.

Blick über den Tellerrand: Gastredner Jaap van Dam brachte dem Publikum des HZ Focus Day 2025 die Altersvorsorge in den Niederlanden näher.

Welchem Rezept, um die Konsequenzen der alternden Bevölkerung zu begegnen, räumen Sie die besseren Chancen ein: einer Flexibilisierung bzw. Automatisierung des Rentenalters wie in den Niederlanden oder einer Senkung des Umwandlungssatzes?

Aus meiner Sicht ist der einzige Weg, die Finanzierung der Altersvorsorge zu sichern, eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Ich denke nicht, dass eine Automatisierung die beste Lösung ist, eher eine langsame und planbare Erhöhung des Rentenalters mit sozialer Abfederung und einer Berücksichtigung der Lebensarbeitszeit. Das ist nicht leicht umzusetzen, aber eine Abschaffung der Privilegierung der Studienjahre wäre schon ein erster Schritt.

Am HZ Focus Day skizzierten Sie die Idee der aufgeschobenen Rente. Gibt es dafür Vorbilder?

Nicht in staatlichen Rentensystemen, soweit ich weiss, aber in privaten Vorsorgeunternehmen in den USA und in Grossbritannien. Die Idee ist, eine möglichst flexible Verwendung des Alterskapitals zu ermöglichen mit gleichzeitiger Absicherung des Risikos Langlebigkeit.

Das «Risiko Langlebigkeit», was meinen Sie damit?

Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Gedankenexperiment aufgesetzt, um meinen Studierenden zu zeigen, wer die schlechten Risiken in der Alterssicherung sind. Es sind nämlich nicht die Kranken und Gebrechlichen, sondern die fitten Gesunden wegen der höheren Lebenserwartung. Richtig kontrovers wird es, wenn die Rente eines gesund lebenden Menschen mit den Renten von Alkoholabhängigen, Rauchern und Übergewichtigen verglichen wird. All diese Leute müssten eine höhere Rente erhalten, falls die kleinere Lebenserwartung ausgeglichen wird.

Über 200 Interessierte fanden anlässlich des HZ Focus Day 2025 den Weg ins Kunsthaus Zürich.

Nicht «aufgeschoben», sondern «aufgehoben» liegt im Trend: Immer mehr Menschen lassen sich das Alterskapital ausbezahlen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Ich sehe die Tendenz mit einer gewissen Sorge. Erstens weil das Risiko Langlebigkeit nicht mehr abgesichert ist – oft auf Kosten der Allgemeinheit. Zweitens weil die Verwaltung des Kapitals sehr herausfordernd ist und viele Fehler passieren können. Ich denke aber nicht, dass eine steuerliche Gleichbehandlung von Kapital und Rente, die ich durchaus begrüsse in der zweiten Säule, den Trend wirklich ändern würde.

Zum Schluss und aus Anlass von 40 Jahren BVG: Wie gut ist die zweite Säule aus Ihrer Sicht gealtert?

Das ist eine schwierige Frage! Die Grundidee ist immer noch ausgezeichnet, gerade als Ergänzung zur AHV. Wäre das BVG eine Läuferin, dann würde ich jetzt sagen, dass sie von der Politik in viel zu kleine und zu enge Schuhe gesteckt wurde und daher langsamer vorwärtskommt als es möglich wäre.

Abschliessende Podiumsdiskussion mit (v.l.n.r.): Michael Hermann (Politanalyst, Gründer Sotomo), Eliane Albisser (Geschäftsführerin PK-Netz), Moderator Dr. Hugo Bigi, Petra Feigl-Fässler (HR-Leiterin Migros Industrie und VR Groupe Mutuel) und Dr. Simon Schnyder (Ressortleiter Sozialpolitik SGV).

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