Nicolas Gloor – Die bewusste Entscheidung, glücklich zu sein

11. Oktober 2023 | Kommentar(e) |

Jean-Christophe Aeschlimann

Nicolas Gloor leidet an ALS. Er hat uns zu sich nach Renens (VD) eingeladen, um uns etwas über sich und seine Geschichte zu erzählen. Trotz seines schweren Schicksals ist es dem 27-Jährigen nach wie vor ein Anliegen, anderen zu helfen – ob in der Schweiz oder anderswo in der Welt – und das Leben voll auszukosten. Er erzählt.

Nicolas Gloor wurde in Carrouge im Kanton Waadt geboren. Er geht zunächst in der Gegend von Moudon zur Schule und besucht dann das Gymnasium in Payerne. Anschliessend absolviert er einen Bachelorstudiengang in Sozialer Arbeit, den er als diplomierter Erzieher abschliesst. Danach arbeitet er anderthalb Jahre lang mit kleinen Kindern – bis sich seine Erkrankung bemerkbar macht und er seine Tätigkeit aufgeben muss.

Groupe Mutuel: Was für ein Mensch sind Sie, Nicolas? Was hat Sie angetrieben und was treibt Sie heute an? Was machen Sie gerne und was macht Sie glücklich?

Nicolas Gloor: Die Antwort ist einfach. Ich liebe es, Zeit mit den Menschen zu verbringen, die ich liebe. Früher, also vor meiner Erkrankung, hatte ich keine besonderen Hobbys. Mit Leuten, die mir wichtig sind, etwas trinken oder Bowlen gehen, das macht mich glücklich. Ausserdem ist es mir ein Anliegen, meinen Mitmenschen zu helfen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass ich Erzieher werden wollte. Vor meiner Erkrankung gründete ich einen Verein, um Kindern im Senegal und in Westafrika zu helfen, die Opfer von Gewalt und Menschenhandel sind. Im Rahmen meines Studiums habe ich in einem Empfangszentrum im Senegal gearbeitet und konnte mit eigenen Augen sehen, was sich dort abspielt. Den Verein gibt es immer noch, aber aufgrund meiner Situation steht er derzeit auf Stand-by. Er heisst Yakaar, was Hoffnung auf Wolof, der am weitesten verbreiteten Sprache im Senegal, bedeutet. Ich wollte schon immer die Ungerechtigkeiten dieser Welt bekämpfen. Sie sind überall zu finden, aber wenn wir aktiv werden, können wir sie zumindest teilweise etwas vermindern.

Ihre Erkrankung ist eine Ungerechtigkeit…

Ja. Und ich empfinde sie auch als solche. Aber ich kann nichts dagegen tun, sie hat eine biologische Ursache. Auf soziale Ungerechtigkeiten hingegen können wir Einfluss nehmen und etwas verändern. Das treibt mich an. Ich bin nur ein Mensch unter vielen, aber ich leiste meinen bescheidenen Beitrag.

Sind Sie gläubig?

Ja, ich glaube an Gott. Ich bin fest davon überzeugt, dass nach dem Sterben etwas auf uns wartet. Das macht es leichter, den Tod zu akzeptieren.

Woran denken Sie, wenn Sie allein zu Hause sind oder mitten in der Nacht aufwachen?

Ich habe mehrere Phasen durchlaufen. In der ersten habe ich nicht wirklich realisiert, was vor sich ging. Ich weiss auch gar nicht, ob man jemals realisieren kann, dass man dem Ende näher ist als dem Anfang. Es war eine Art Verleugnungsphase. Danach kam eine Phase, in der ich realisiert habe, dass ich es nicht realisiert habe. Zum Beispiel, dass ich meine Autonomie verlieren werde. Zu Beginn konnte ich noch ganz normal gehen, dann, vor ein paar Wochen, kam der Rollator, und jetzt sitze ich im Rollstuhl. Ich sagte mir: «Nicolas, du realisierst nicht, was auf dich zukommt, und es wird nicht einfach werden.» Im Endstadium der Krankheit kann man nicht mehr atmen, weil die Lungenmuskulatur nicht mehr funktioniert. Ich glaube, dass ich das noch immer nicht realisiere.

Danach kam die schwierigere Phase, in der ich mich momentan befinde. Ich schaffe es nicht, Dinge alleine zu machen, ich benötige Hilfe beim Duschen, Kochen, beim Haushalt und Einkaufen, beim Ausräumen des Geschirrspülers … eigentlich bei allem. Ich mag es nicht, so sehr auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Die Beziehungen zu meinen Mitmenschen sind heute nicht mehr symmetrisch, sondern asymmetrisch. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren, aber ich versuche, mich nach und nach daran zu gewöhnen. Schliesslich bleibt mir auch gar nichts anderes übrig.

Nicolas Gloors Zeugnis als Video (nur auf Französisch)

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn ich «Musik» sage?

Ich liebe es, Musik zu hören, bin aber selbst nicht musikalisch begabt. Ich mag viele Stilrichtungen: französische Chansons, ein bisschen Rap usw. Wichtig sind mir vor allem die Stimmen und die Texte. Ich höre auch Loblieder, christliche Musik, die mich beruhigt.

Und wie sieht es mit dem Lesen, mit Büchern aus?

Ich lese sehr gerne, aber oft fehlt mir die Zeit dafür. Aber ich liebe es, in die Ferien zu fahren und am Strand zu lesen. Ich mag Bücher, die soziologische und gesellschaftliche Themen behandeln, die die Welt und Dinge hinterfragen. Aber auch Science-Fiction-Romane, die mich in Fantasiewelten eintauchen lassen.

Filme und Serien?

Seit ich nicht mehr arbeite, verbringe ich ganz schön viel Zeit vor dem Bildschirm. Ich schaue Filme und Serien, weil mir das hilft, das Gedankenkarussell zu stoppen. Ich mag das Marvel-Universum oder Serien wie Grey’s Anatomy. Aber auch Fantasy, Dramen und ab und zu Komödien.

Ein paar Regeln für ein besseres Wohlbefinden

Welche Menschen, egal ob Sie Ihnen nahestehen oder nicht, sind für Sie Vorbilder?

Meine Mama, würde ich sagen. Aufgrund der Liebe, die sie mir geschenkt hat, wie sie mich erzogen hat. Mein Vater natürlich auch, aber auf eine andere Art und Weise. Ich habe es meiner Mama zu verdanken, dass ich der Mensch bin, der ich heute bin. Nach den Werten lebe, die sie und mein Vater mir vermittelt haben. Zum Beispiel, dass es wichtig ist, an seine Mitmenschen zu denken. Und auch meine beste Freundin, mit der ich viel geteilt habe. Elisa und ich haben ein grossartiges Verhältnis, sie ist meine Seelenverwandte und steht mir sehr nahe.

Fällt Ihnen ein Satz, ein Sprichwort, eine Erinnerung ein zum Thema «Herausforderungen bewältigen» oder «schwierige Zeiten überstehen»?

Nichts Bestimmtes, glaube ich. Ich würde eher sagen, dass ich an Gott denke, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht alleine bin. Ich weiss, dass er bei mir ist, aber manchmal frage ich mich, warum er mich das durchmachen lässt. Hin und wieder verspüre ich auch etwas Wut. Aber letztendlich sage ich mir, dass es vielleicht einen Grund dafür gibt, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen. Vielleicht bin ich krank, weil ich stark genug bin, damit umzugehen. In einer perfekten Welt wäre ich natürlich nicht erkrankt, aber eine perfekte Welt gibt es bekanntlich nicht.

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