Mentale Gesundheit: Die Jungen sind besonders belastet

17. Juli 2025 | Kommentar(e) |

Martin Kamber

90 Prozent der Schweizer Bevölkerung schätzt ihre Gesundheit eher gut bis sehr gut ein, wie eine repräsentative Umfrage zeigt, die das Befragungsinstitut GfK im Auftrag der Groupe Mutuel durchgeführt hat. Die Studie zeigt aber auch, dass sich gerade junge Menschen häufig gestresst und einsam fühlen: ein Trend, der die Psychologin Chantal Hofstetter hier im Interview mit Sorge erfüllt.

Groupe Mutuel: Gerade Junge berichten von einer schlechten mentalen Verfassung. Geht es der Gen Z wirklich schlechter oder sprechen sie nur eher darüber?

Chantal Anne Hofstetter: Die grössere Offenheit der jüngeren Generation im Umgang mit psychischer Gesundheit beeinflusst sicherlich die Ergebnisse. Das bedeutet jedoch nicht, dass psychische Belastungen lediglich ein „Trendthema“ sind. Denn neben subjektiven Befragungsdaten belegen auch objektive Indikatoren wie die Häufigkeit der Erkrankungen, die Anzahl Hospitalisierungen oder IV-Neurenten aufgrund psychischer Beeinträchtigungen, dass junge Menschen in besonderem Masse belastet sind.

Es gilt also beides: Einerseits sind junge Menschen psychisch stark gefordert, andererseits gehen sie offener damit um als frühere Generationen.




Zur Person

Chantal Anne Hofstetter absolvierte einen Master of Science in Psychologie an der Universität Bern und arbeitet heute als stellvertretende Leiterin für ensa Schweiz, wo sie den Bereich Content und Bildung verantwortet. Das Programm der Stiftung Pro Mente Sana bietet Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit an.

Wie geht es der älteren Generation?

Im Durchschnitt schneiden ältere Menschen besser ab. Sie sind tendenziell glücklicher und berichten auch über weniger Symptome einer psychischen Erkrankung. Die ältere Generation ist krisenerprobter und hat durch ihre Lebenserfahrung einen «Vorsprung», wenn es darum geht, herausfordernde Situationen zu bewältigen. Andererseits sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren, denn auch eine geringere Offenheit gegenüber psychischen Themen spielt eine Rolle: Für viele ältere Menschen sind psychische Probleme nach wie vor ein Tabuthema und mit einem grossen Stigma verbunden, man spricht also nicht darüber.

Das bedeutet, dass psychische Probleme bei den über 65-jährigen zwar weniger häufig, aber keineswegs inexistent sind. Und auch bei dieser Generation ist ein tendenzieller Anstieg über die letzten Jahre hinweg zu beobachten. Problematisch ist dabei insbesondere, dass Betroffene dieser Altersgruppe seltener aktiv Hilfe suchen.

Wie unterscheide ich Niedergeschlagenheit von einer «echten» Depression? Bei welchen Alarmzeichen muss ich reagieren?

Nicht jedes Stimmungstief ist einer Depression gleichzusetzen. Temporäre Niedergeschlagenheit oder negative Reaktionen auf belastende Ereignisse sind Teil des Lebens. Hält die negative Stimmung gemeinsam mit weiteren Veränderungen wie vermindertem Appetit oder Konzentrationsschwierigkeiten über einen längeren Zeitraum an – als Faustregel kann man von zwei Wochen ausgehen – und ist der Alltag beeinträchtigt, sollte gehandelt werden. Das muss nicht zwangsläufig eine psychotherapeutische Behandlung bedeuten – auch niederschwellige Beratungsangebote, wie jene von Pro Mente Sana oder der Dargebotenen Hand, können hilfreich sein.

Bei sehr hohem Leidensdruck, Störungen des Bewusstseins oder des Realitätsbezuges sowie Suizidgedanken sollte so rasch wie möglich reagiert und fachliche Unterstützung beigezogen werden.

«Letztlich gibt es keine einfache Antwort auf die Frage ‹Warum?›, denn die psychische Gesundheit wird stets von mehreren Faktoren beeinflusst.»

Die Jungen berichten auch von starker Einsamkeit. Woran liegt das?

Tatsächlich scheinen immer mehr davon betroffen zu sein – ein Trend, der mir grosse Sorgen bereitet. Denn Einsamkeit steht nicht nur in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, sondern erhöht auch das Risiko für diverse körperliche Erkrankungen und Suizide. Wie kann es sein, dass so viele Junge in der eigentlichen «Hochphase» des sozialen Lebens und in einer Zeit, in der man so gut vernetzt ist wie nie zuvor, unter Einsamkeitsgefühlen leiden?

Eine Theorie ist, dass die Digitalisierung und insbesondere die sozialen Medien zu einer Verarmung von echten, physischen Beziehungen führen, welche mehr Rückhalt bieten als virtuelle Kontakte. 100 Likes bedeuten eben leider nicht, dass man 100 Leute anrufen kann, wenn es einem mal nicht so gut geht oder man Ablenkung bräuchte. Dazu kommt der Druck einer individualisierten Leistungsgesellschaft hinzu, in der von jungen Menschen immer früher immer mehr erwartet wird. Letztlich gibt es aber keine einfache oder eindeutige Antwort auf die Frage «Warum?», denn die psychische Gesundheit wird stets von mehreren Faktoren beeinflusst.

Sie sprechen von einer Verarmung aufgrund fehlender echter Kontakte. Stellen uns die sozialen Medien noch vor weitere Herausforderungen?

Es gibt Stimmen, welche bei den sozialen Medien die Hauptursache für den Negativtrend sehen und sogar dafür plädieren, diese bis zum Erwachsenenalter zu verbieten. Risiken bestehen insbesondere durch Vergleiche mit unrealistischen Idealen, Cybermobbing, Schlafmangel, permanente Reizüberflutung – teilweise mit nicht altersgerechten Inhalten sowie suchtfördernden Mechanismen.

Diese Gefahren sind real, doch soziale Medien sind aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Aus meiner Sicht wäre es daher sinnvoller, junge Menschen im bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Plattformen zu stärken. Eine solide Medienkompetenz wirkt auch im Erwachsenenalter schützend. Und natürlich bieten soziale Medien auch Chancen, so können sie etwa zur Entstigmatisierung beitragen, einen niederschwelligen Zugang zu Informationen darstellen und Vernetzung und Gemeinschaft fördern.

Was kann ich selbst tun, um meine mentale Gesundheit stärken?

Die meisten von uns putzen sich mehrmals täglich die Zähne und kümmern sich im Falle einer Verletzung mit Desinfektion, Verband und Schonung um die Wunde. Solche gesunden Routinen und Reaktionen sind selbstverständlich, wenn es um die körperliche Gesundheit geht – im Bereich der psychischen Gesundheit aber noch weitaus weniger verbreitet. Doch auch die seelische Gesundheit lässt sich stärken und Abwehrkräfte gegen Belastungen mobilisieren. Dabei ist es sehr individuell, was einer Person guttut oder wie sie sich am besten entspannen kann.

Wichtig ist, dass wir uns auch hierfür bewusst Zeit nehmen und gerade in herausfordernden Zeiten darauf zurückgreifen. Die «Wie geht’s dir?»- Kampagne bietet mit ihren «Impulsen für die Psyche» gute Anhaltspunkte für eine solche Auseinandersetzung.

Was ist der erste Schritt, wenn ich merke, dass es mir schlecht geht?

Zunächst einmal gilt es abzuschätzen, ob dieser Zustand eine normale Reaktion auf eine herausfordernde Situation darstellt. Habe ich beispielsweise eine nahestehende Person verloren oder muss ich um meine Arbeitsstelle bangen, haben Trauer oder Ängste nicht per se Störungswert. Gehen die Beschwerden aber über das Erleben solcher Emotionen hinaus, ist es ratsam, mit jemandem über die Belastung zu sprechen. Das kann eine Freundin, der Lebenspartner oder auch die Chefin sein. Bereits dieses Gespräch kann entlasten und gemeinsam lassen sich dann weitere Schritte überlegen.

Wie sehen diese weiteren Schritte konkret aus?

Kommt man zum Schluss, dass professionelle Hilfe angezeigt ist, bestehen verschiedene Optionen: Zunächst einmal gibt es zahlreiche niederschwellige Angebote wie etwa die psychosoziale Beratung der Stiftung Pro Mente Sana, die Dargebotene Hand unter der Nummer 143 oder Suchtberatungsstellen. Im Arbeitsumfeld stehen häufig Sozialdienste, HR oder betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) zur Verfügung, für junge Erwachsene im Ausbildungsbereich Schulpsychologinnen oder Sozialarbeiter. Auch die Hausarztpraxis bietet sich als erste Anlaufstelle an. Wenn die Beeinträchtigung behandlungsbedürftig ist, können ärztliche oder psychologische Psychotherapeutinnen hinzugezogen werden, welche entweder niedergelassen in eigener Praxis oder bei der regionalen Versorgung tätig sind.

Wie und wann soll man reagieren, wenn es jemandem im Umfeld schlecht geht?

Diese Frage beschäftigt viele, denn die meisten haben schon einmal erlebt, dass es jemandem in ihrem Umfeld psychisch nicht gut geht. Und dann möchte man helfen, aber wie? Hier verweise ich gerne auf die ensa Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit. Die Kurse versetzen Laien in die Lage, auf Betroffene mit psychischen Schwierigkeiten zuzugehen und Erste Hilfe zu leisten. Da junge Menschen biologisch, psychologisch und sozial noch mitten in ihrer Entwicklung stehen, gilt es bei dieser Altersklasse gewisse Aspekte besonders zu beachten. Dafür bietet ensa auch Erste-Hilfe-Kurse mit Fokus auf Jugendliche an, in denen für diese Altersgruppe besonders relevante Themen wie Essstörungen oder selbstverletzendes Verhalten thematisiert werden. Grundsätzlich gilt aber für alle Altersgruppen: Betroffene ansprechen, unterstützen und gegebenenfalls an professionelle Hilfe vermitteln.

«Grundsätzlich gilt für alle Altersgruppen: Betroffene ansprechen, unterstützen und gegebenenfalls an professionelle Hilfe vermitteln.»

Wie gross ist heutzutage das Stigma von Betroffenen? Wie können wir helfen, dieses Stigma zu brechen?

Trotz gestiegener öffentlicher Aufmerksamkeit sucht rund ein Viertel der Betroffenen noch immer keine Hilfe. Es ist paradox, dass heute zwar mehr über das Thema gesprochen wird, psychischen Störungen und deren Behandlung aber immer noch ein so grosses Stigma anhaftet.

In diesem Zusammenhang ist auch spannend, über welche Leiden vornehmlich gesprochen wird. Unter einem Burnout zu leiden ist «salonfähiger», als von einer Depression zu sprechen und andere psychische Beeinträchtigungen wie etwa Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis werden in der Öffentlichkeit nach wie vor kaum thematisiert. Und wer Behandlung in Anspruch nimmt – gerade stationäre –, gilt mancherorts noch immer als komisch, schwach oder gar unberechenbar und gefährlich. Dem entgegenwirken können wir nur mit Offenheit und Aufklärung – denn psychische Gesundheit geht uns alle an.

Welche Änderungen würdest du dir in der Arbeitswelt wünschen?

Kurse oder Programme, die man laut Chantal Hofstetter kennen sollte:

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